Kerstin hat geschrieben:
Ich hatte immer eher den Eindruck, dass Anne den Haushalt führt. Natürlich nicht offiziell, aber anscheinend wenden sich doch alle eher an sie.
Das glaube ich nicht. Es wird eher mehrmals betont, dass sie unwichtig ist und in dem Zusammenhang mit den Sparmaßnahmen "wie immer" niemand daran denkt, sie zu konsultieren, weil man annimmt, sie würde es sowieso nicht interessieren. Das mag Blindheit auf Seiten von ihrem Vater und ihrer Schwester sein, aber ich habe in diesen ersten Kapiteln wirklich den Eindruck, sie schleicht wie ein Schatten durchs Haus und hält sich so weit es geht aus allem raus - zumindest aus dem, was ihr Vater und ihre Schwester so repräsentieren.
Zitat:
Und die Abschiedsbesuche macht auch sie. Das ist doch eigentlich die Aufgabe der Hausherrin, nur scheint Elizabeth sich daraus nichts zu machen. Für diese "niederen Dinge" ist Anne zuständig.
Vorallem sind das nicht nur "niedere" Dinge, sondern Dinge, die von einem guten Gutsherrn erwartet werden - siehe z.B. Darcy. Dessen Ansehen bei Lizzy steigt auch erst, als sie erfährt, wie gut er sich gegenüber seinen Pächtern verhält. Auch Fanny erinnert Crawford an seine Pflichten als Gutsherrn, die er vernachlässigt, weil er sich sonstwo rumtreibt und alles seinem Verwalter überlässt. Mr Knightley hingegen kennt seine Pächter persönlich und steht ihnen mit Rat und Tat zur Seite.
Dass die Elliots diese Pflichten so gering schätzen, spricht auch Bände. Man kann an zwei Fingern abzählen, wie "angesehen" sie in der Nachbarschaft wohl sind. Als sie nach Bath umziehen, vermisst sie jedenfalls niemand.
Bzgl. Elizabeths Charakter/Widersprüchlichkeit: Ihre "besonnene und entschiedene Haushaltsführung" klingt im Original etwas anders:
Thirteen years had seen her mistress of Kellynch Hall, presiding and directing with a self-possession and decision which could never have given the idea of her being younger than she was."self-possession" geht meiner Meinung nach eher in die Richtung von "Selbstbeherrschung, unerschütterliche Ruhe, Sicherheit" und "decision" in diesem Fall "Entschiedenheit" im Sinne von Selbstsicherheit und
Entscheidungskraft. Was auch besser zum Sinn des Satzes passt, dass aufgrund dieses Auftretens nicht zu vermuten wäre, wie jung sie tatsächlich ist.
"Besonnenheit" im Sinne von Umsichtigkeit und Überlegtheit (besonders in wirtschaftlichen Dingen) lese ich da nicht raus. Zumal das "presiding and directing", das im deutschen Satz weggelassen wurde auch eher auf häusliche Autorität hindeutet als auf persönliche Bescheidenheit.
Dass Anne als "verwelkt" beschrieben wird, während Elizabeth noch genauso schön wie vor zehn Jahren ist, finde ich nicht so unlogisch, denn die Erklärung wird ja gleich mitgegeben. Indirekt zwar, weil wir ja an der Stelle noch nicht viel über Anne wissen:
It sometimes happens that a woman is handsomer at twenty-nine than she was ten years before; and, generally speaking, if there has been neither ill health nor anxiety, it is a time of life at which scarcely any charm is lost.Anne war zwar nicht krank, aber ihre unglückliche Liebe ist doch eine Begründung für ihre vergleichsweise traurige Erscheinung.